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Mein Raum voller unerzählten Geschichten

Mein Raum voller unerzählter Geschichten

Mein Erinnerungsraum befindet sich im oberen Stock eines alten Hauses. Seine Beleuchtung ist spärlich; er dient schliesslich auch als Aufbewahrungsraum. Um ihn zu betreten, steigt man eine kleine Stufe hinauf. Die Mauern sind kalt und rissig, es lässt sich kaum erahnen, ob sie vor dem jetzigen gräulichen Ton jemals weiss waren. Der Raum strömt diese Kühlheit aus, gleichzeitig wirkt er doch gewissermassen einladend; man möchte verweilen, jeden Gegenstand mit seiner Geschichte, jede Ecke und Ritze erkundigen. Die zugleich empfundene Wärme dürften den dunklen Holzbalken an der Decke in Kombination mit dem spärlichen, in warmes gelb getauchten Licht der Glühbirne zu verdanken sein. Der Raum ist ein Winkel, wobei man beim Betreten die Innenseite davon betritt. Rechts geht der Raum weiter zurück. 
Die linke Seite, die an die Küche angrenzt und gleich neben der Tür beginnt, ist leer. Schaut man geradeaus, erblickt man die uralten Fenster, die mittlerweile ganz milchig sind und entsprechend Blicke von aussen verwehren und es dem Sonnenlicht gleichzeitig schwer machen, seine Strahlen im Inneren des Raumes zu verteilen. Gelegentlich kann man durch die schlecht isolierten Fenster ein Auto vorbeifahren hören.
Schweift man den Blick nach rechts, trifft er zuerst auf die gefüllten, am Boden stehenden Schachteln. Jeder Gegenstand, fein säuberlich darin verstaut, hat eine Vergangenheit, eine Geschichte. Doch als Kind reicht es mir, meine eigene Geschichte dazu erfinden zu können. Auch ein Spielkinderwagen aus früheren Zeiten und einige wenige, alte Spielsachen liegen am Boden neben den Schachteln. An der hinteren rechten Wandseite stehen mit Tüchern abgedeckte, grosse Gegenstände, an die ich mich nicht erinnern kann. Links davon, an der anderen Seite des Innenwinkels, befindet sich ein Regal mit einer museumsreifen Waage mit Gewichten neben Konservendosen, Konfitüren und was man sonst noch alles an Lebensmittelvorräten lagert.
Bei jedem Schritt, den man macht, knarrt der Fussboden, als würde er jammern über die Last, die er über all die Jahre tragen musste. Auch die Luft deutet auf das Alter hin: Ein schwer zu deutender Geruch liegt in ihr, vermutlich eine Kombination aus altem Holz und Staub, wobei dies seltsamerweise keinerlei Ekel, sondern vielmehr Interesse erweckt. Fast so, als wolle der Raum dazu anregen, sich Gedanken zu seiner Geschichte zu machen. Ob ich dieses Geheimnisvolle bloss als Kind so empfinde, weil ich ihn nur selten und nur begleitet betreten darf, kann ich nicht sagen. In meinem Kopf bleibt er jedoch voller unerzählter Geschichten, mein Erinnerungsraum.
Basel, 2019