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Wasser blüht

Es gab da einen Raum.
Er schmolz jedes Jahr, wenn die Sonnenstrahlen wieder wärmer wurden. Trotzdem bauten wir ihn jeden Winter wieder von neuem auf. Direkt vor unserem Haus auf der grossen Wiese. Schaufel um Schaufel wurde der Schnee aufgeschichtet, bis ein riesiger, organisch-weisser Hügel entstand. Dann höhlten wir ihn aus.
Wir luden alle unsere Freunde mit Ski Anzug ein. Wir sassen im Kreis um die riesige Punschpfanne in der Mitte, aus der wir mit langen Strohhalmen tranken. Die heisse Pfanne brannte sich durch den Schneeboden bis auf den Rasen durch. Der Eingang war rund und klein – für Erwachsene undurchdringbar. Beim Reingehen musste man sich achten, keinen der vielen gepressten Eiskristalle abzubrechen.
Um den runden Grundriss unserer Höhle legte sich  am Rand eine Sitzbank. Sie war sehr niedrig und immer nass und kalt. Ich mochte das nasse Gefühl nicht, welches sich durch den Anzug an meinen Po durchdrückte, damals wie heute.
Anlehnen konnte man nur kurz, es war zu kalt. Ab und zu tropfte ein Wassertropfen auf unsere Köpfe, gelöst von der warmen Luft, die wir Kinder in den Raum brachten. Es war ganz hell durch das viele Weiss und die Sonne, die sich ihren Weg irgendwie durch tausende von Eiskristallen zu uns herein suchte. Alles glitzerte. Gerochen hat es eisig und nach den Pommes Frites, welche mein Papi für uns machte. Wir hatten uns viel zu erzählten, wir Kinder. Ich weiss nicht mehr genau was, nur dass diese Worte im gepressten Schnee hängen blieben und sobald der Frühling kam, zusammen mit der ganzen Höhle, im Rasen versanken.
 
Sie blieb da, auch wenn wir alle sie verliessen. Als wollte sie sich festkrallen auf den flachgedrückten Grashalmen, die sich allesamt leblos und von der Kälte durchdrungen an den Boden drückten. Wenn sich dann die Strahlen des Frühlings immer stärker in ihr weisses Kleid schlangen, begann sie zu Weinen.
Tränen tropften in ihrem Inneren.
Sie sackte in sich zusammen als liesse man ihr die Luft raus. Ihre Tränen sanken in den Boden. Leise reckten die grünen Halme um sie herum ihre Köpfe in die Höhe, um die frischen nahrhaften Sonnenstrahlen einzufangen. Vielleicht wollten die Halme sie auch kitzeln und zum lachen bringen. Doch da hatte sie schon aufgegeben.
Die letzten Eiskristalle vereinten sich zu kleinen Tropfen, welche dann immer weiter in die Erde sanken. Einige halfen den Halmen sich noch weiter zu recken.
Sie war weg.
Unser Reich aus Wasser hatte sich leise in die Erde zurückgezogen.
Aber wer sagt denn, dass nicht einer dieser Tropfen mich wieder einmal berühren wird?
Basel, 2013