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Kinderkiste

In all seiner eleganten Unscheinbarkeit steht er da, der klapprige Klassiker. Eine olivgrüne und dreckweisse Rostbeule. Rostig auch der rundgebogene Metallhebel mit dem Druckknopf darin, der in seiner Einbuchtung in der verzogenen seitlichen Schiebetüre liegt. Es klemmt und knarzt unter den Fingern, wenn man versucht, ihn ganz herunter zu drücken und die Türe seitlich aufzuschieben. Sie bleibt an zwei bestimmten Orten kurz stehen und verläuft eine schräge Linie in ihrer Schiene, bis sie ganz offen ist und das chaotische Innenleben des Familien-VW-Buses preisgibt.
Der beissende Mischgeruch von Treibstoff, alten Bremsscheiben, Motorenöl sowie der typische Gestank alter Autositzpolster überdeckt gerade so einen ehemaligen Hauch von Kinderkotze und stundenlangen Autofahrten voll Unterhaltungsspielen, Zankereien und aus-dem-Fenster-starren-bis-etwas-passiert-oder-man-einschläft. Am Boden rotes Laub, sonnengetrocknete Erde, imaginäres Kürbisfeld, auf dem man letzte Woche noch Kürbisse selber pflücken gegangen ist. Riesig breite Sichherheitsgurte über ledrig brauner Sitzbank, Hohlraum darunter, irgendwie lässt sie sich auf mysteriöse Weise so klappen, dass die ganz Fläche ein Bett ist. Wenn ich darauf sitze baumeln die Beine in der Luft. Der Raum ist rund und doch eckig. Am Boden in der linken vorderen Ecke hinter dem Stiefvatersitz ein unangebundener, zerrissen-zerschlissener ehemaliger Vordersitz eines anderen Autos. Unser heissgeliebter „Schleudersitz“. Laute, blutige Kämpfe wer jedes Mal darauf sitzen darf, in jeder grösseren Kurve quietschend vor Spass auf die andere Seite rutschend. Im Wagen immer heiss und kalt, kalt oder heiss, heiss oder kalt, keine Heizung, keine Klimaanlage (als hätte ich damals schon gewusst, was das ist ). Die Fenster mit den schwarzen Quadratblöcken dran zum runterdrücken (mit aller Kraft) und aufschieben.
Holprig, schaukelnd, lautes Getöse und Geknattere, Blick nach vorn auf den zitternden Schalthebel, gemütlich eingebettet zwischen die Geschwister. Mögliche Stillstände mitten auf der steilen Strasse. Handbremse, Gefluche. Hilfsbereite Anschieber, schmunzelnde Mutter. Weiterfahren in der Kinderkiste.

Alle Spiele sind gespielt, Zwischenhalte gemacht, Rückfahrt in der Dunkelheit. Das Schaukeln dasselbe,
die Geräusche durch die Müdigkeit gedämpft. Geschwister schlafen, Beine baumeln, die Scheinwerfer anderer Autos werfen vorbeiziehende Lichtkegelformen an die Wand, denen man mit den Augen folgen kann. Sie wandern durch den Raum und heben Einzelheiten hervor. Kleines Loch im Rücksitz, Fingerabdruck am Fenster, Rost an der Seitentüre, den Boden in seiner unaufgeräumten Pracht und dann wieder Dunkelheit. In dieser Dunkelheit versucht der Stiefvater den Wagen zu kehren. Der hintere Teil ragt über den Strassengraben hinaus. Langsames, stetiges Rutschen. Langsames, sicheres Erwachen. Die Räder drehen durch. Der Motor ist zu schwach um unsere Familienmasse wieder auf die Strasse zu ziehen. Zentimeter um Zentimeter rutscht die Kiste ganz sanft und unausweichlich mit uns hinab, stetig den Winkel zwischen Strassenebene und Wagenebene vergrössernd, bis es sich anfühlt, als würden wir senkrecht aus dem Strassengraben ragen.
Jede Bewegung erstarrt. Alle wach, alle still.
Kein Schaukeln, keine Poltern des Motors, und auch keine anderen Scheinwerfer mehr auf der Strasse.
Nur wir und die Dunkelheit in unserer starr gewordener, vom Erdboden festgehaltener Ratterkiste.
Basel, 2013