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Cinderella's Dream
23. November 1995, Dampfzentrale Bern
Soloperformance von und mit Norbert Klassen
Von Norbert Klassens Soloperformance Cinderella’s Dream prägt sich insbesondere der Moment ein, als der Künstler in einem Abendkleid vor eine Tonne voller verdorbener Küchenabfälle kniet. Er steckt seinen Kopf hinein und ruft: «Bäumchen, Bäumchen rüttel dich! Bäumchen, Bäumchen schüttel dich! Wirf Gold und Silber über mich!» Er hebt die Tonne an, bis ein Schwall Unrat über ihn platscht. Das Publikum gibt ekelerregte Geräusche von sich. Klassen stellt die Tonne neben sich ab und führt, im Unrat sitzend, seine Erzählung von Cinderella fort.
Wovon die Erzählung handelt, beschreibt der Künstler in einem Gespräch mit Gisela Hochuli: Er habe den Werdegang einer Frau nachzeichnen wollen, die trivial anfängt, zur Künstlerin wird und schliesslich auf ihrem Totenbett tanzt. «Ich fand es sehr interessant», sagt er, «anstelle von Cinderella, die zum Bäumchen geht und Kleider kriegt, eine Figur zu kreieren, die auch ihr Bäumchen hat, doch es kommt nur Scheisse runter und sie muss sich durch die Scheisse hindurchwühlen. Das ist ihr Leben.»
Dem Moment mit der Mülltonne gehen in der Aufführung verschiedene Aktionen voraus. Klassen breitet zuerst verschiedene Requisiten auf der Bühne aus. Er legt seine Kleider ab und peitscht sich, nachdem er kurz zum Publikum gesprochen hat, mit einer Rute den Rücken aus. Als nächstes präsentiert er Gemüse und Früchte (etwa Gurken und Melonen), die er entweder dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuordnet. In diesem Moment erscheint er wie ein Lehrer, der eine, wie er ebenfalls im Gespräch mit Hochuli sagt, «symbolische Umwandlung» erklärt.
Diese Umwandlung führt er auch am eigenen Körper durch. Er zieht ein rotes Abendkleid an und versetzt sich in die Rolle von Cinderella, die er im Verlauf der Aufführung in die Scheisse reitet. Klassen oszilliert dabei zwischen der Verkörperung der Frauenfigur und einer distanzierten Erzählerrolle. Immer wieder hält er inne, um Cinderellas Lebensentscheidungen zu kommentieren oder Hintergründe aus ihrem Leben zu erklären. Die Konzentration und dramaturgische Konsistenz brechen dabei auch dann nicht ab, wenn Klassen im stinkenden Kleid apathisch zu einer Arie tanzt.
«Ich kann nicht tanzen», sagt Klassen zu dieser Szene in einem Gespräch mit Renée Magaña, «und ich weiss, wenn ich tanze, fangen die Leute an zu lachen, weil es so komisch aussieht. Also ich vergiesse dabei wirklich Herzblut und ich leide. Aber für die Leute sieht es komisch aus. Und diesen Effekt will ich.» Das Portrait der sich selbstsuchenden Künstlerin Cinderella ist eine Groteske. Zugleich ist die Aufführung von einer Ernsthaftigkeit durchzogen, der Klassen mit einem Abschlusszitat von Heiner Müller Nachdruck verleiht: «In einer Gesellschaft der Grenzüberschreitung kann ein zum Tode Verurteilter – Anmerkung von mir: das sind wir ja schliesslich alle – seinen wirklichen Tod auf der Bühne zur kollektiven Erfahrung machen.»
Text: Marcel Bleuler, aus "Norbert Klassen, Warum applaudiert ihr nicht?", Stämpfli Verlag AG, Bern, 2015
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