Revolving Histories (#bangbang-0835)
Chapter 14 Mountain Morse
(2015)
https://www.louiseguerra.ch / archive.louiseguerra.ch
YO NO HOmeWOrk – LOUISE GUERRA
Das nomadische kuratorische Projekt deuxpiece gastiert bei sic! Luzern und präsentiert eine Ausstellung von Louise Guerra. Das Künstlerkollektiv Louise Guerra, 2013 gegründet, erprobt unter diesem Pseudonym vielfältig die Praxis künstlerischer Zusammenarbeit, wobei im Dialog aller Beteiligten der einzelnen Projekte kontextspezifische Installationen entstehen. Die Medien reichen dabei von Malerei und Skulptur über Text, Plakat und Publikation bis zu Keramik und Kleidung. Darüber hinaus führt Louise Guerra auch Performances und Seminare durch. Kern dieser vielseitigen Tätigkeit ist die kontinuierliche Erforschung der Frage: Was ist Zusammenarbeit im Kollektiv und wie funktioniert diese? Und in welchem Verhältnis stehen Kollektiv und Individuum?
Malerei als Verhandlungsfeld kollektiver Arbeit
Die zwei Gründerinnen des Kollektivs Louise Guerra begannen 2013 damit, in der Malerei – traditionellerweise das Medium des genuin individuellen Ausdrucks – eine künstlerische Zusammenarbeit auszutesten. Auf den Leinwänden entstanden einerseits die von zwei Autorinnen gemeinsam gestalteten malerischen Spuren und diese bildeten andererseits das Testfeld für eine neue Form der künstlerischen Kollaboration. Durch die eingeleitete Auflösung des künstlerischen Individuums zugunsten einer gemeinsamen Identität entstand Louise Guerra. Die immer wechselnde, neue Situation einer gemeinsamen Arbeit soll der identifizierbaren, subjektiven Künstlerfigur entgegenwirken. Denn es geht Louise Guerra keineswegs um ein «kreatives Duo» (man denkt an Stararchitekten oder das erfolgreichste Künstlerduo der Schweiz) als Erweiterung und Potenzierung ihrer Produktion – sondern um die Erarbeitung einer dem heute so ausgeprägten Kult des Individuums entzogenen künstlerischen Zusammenarbeit, in der diese kollektive Handlung selbst zum Thema wird. Deswegen werden zu unterschiedlichen Momenten weitere Akteure und Beteiligte temporär in das Kollektiv eingebunden, wodurch die Praxis vielseitig und heterogen wird. Neben Rauminstallationen mit diversen Materialien, Wandzeichnungen, Malerei und Publikationen entstehen auch selbst designte Kleidungsstücke, Performances und Choreographien – wodurch das Konstrukt dieser Kunstfigur immer wieder neu hinterfragt wird. In einem der frühen Texte beschreibt Louise diesen Prozess als «losing a sense of ‹me, the author›» und als Befreiung für die künstlerische Arbeit.
Formen der Fiktion und der Gemeinschaft
Auflösung von Autorschaft und Individualität bringt grosse Verunsicherung, sowohl in der eigentlichen künstlerischen Arbeit, wo das Ego stets in Verhandlung mit dem Anderen steht, als auch in der Rezeption, wo das Fehlen eines identifizierbaren Subjekts – das man zur Verantwortung ziehen kann – zu Irritation und Fragen führt. Anknüpfend an die grundlegenden Umwälzung des künstlerischen Akts als genuine, individuelle Tätigkeit hin zu einem konzeptuellen, von der eigenen Person gelösten Entscheidung, trägt Louise Guerra diese Problematik in eine Gegenwart, die sich in Politik, Wirtschaft und Kultur so stark wie nie zuvor auf einzelne Figuren fixiert und diese als Garanten einer Stabilität und Sicherheit betrachtet. Nicht von ungefähr wurden solch konsequente Modelle der Gemeinschaftlichkeit insbesondere als politische-wirtschaftliche Systeme immer wieder als Bedrohung empfunden. Louise Guerra geht es in ihrem Ansatz um nicht weniger als um diese Befragung der «Hegemonie und Machtverhältnisse». Beispielhaft ist die sich über zwei Jahrhunderte erstreckende ANTIBIOGRAFI, eine Performance als Selbstbildnis ohne Selbst (die am 3. Oktober im sic! gezeigt wird), die unterschiedliche, historische Louises verknüpft. Darin wird die Frage zwischen der Fiktion einer solchen Kunstfigur und der Realität ihrer existierenden Werke und Persona befragt. In einem Interview versteht Louise Guerra dies als «eine Strategie der Aneignung von Historie, welche zur Fiktion der Historie wird und gleichzeitig nach dem Ursprung einer Autorität fragt, welche Individuen zur Realität und Erzählungen zur Wahrheit erklärt.»
Besonders in den Publikationen und den Texten, die einen wichtigen Teil ihrer kollektiven Praxis bilden, kommt diese Aneignung und Neuschreibung von Geschichten zum Tragen. Indem Biografien von in der Vergangenheit lebenden und tätigen Louises (etwa Louise Bourgeois oder Louise Nevelson, Louise (Lux) Guyer, Louise Lawler, Louise Farrenc, Louise Michel, Louise Aston, Louise Glück, Louise N. Johnson, Louise Mack) aufgenommen werden und als typisch «weiblich» konnotierte Materialien (Keramik, Textilien) bewusst in die Arbeit integriert werden, setzt Louise Guerra sich in Bezug zu einer Geschichte, anderer weiblicher Akteurinnen, deren Werk und Schaffen ebenfalls einer fiktionalisierenden Geschichtsschreibung unterworfen wurden.
Die Welt als T-Shirt
In der Ausstellung im Elephanthouse präsentiert Louise Guerra eine Rauminstallation von selbst genähten, aus komplexen Schnittmustern bestehenden T-Shirts, welche in Lesson One und Lesson Two als Choreographie aktiviert werden (15h und 17h an der Eröffnung 29. Oktober). Zur Ausstellung erscheint ebenfalls ein Artist Book Mountain Morse – Chapter 14. Die Ausstellung YO NO HOmeWOrk geht dem Thema der Kodierung eines funktionierenden Systems nach. Anhand von sozialen Gesellschaftscodes, die wie eine Sprache das Denken und Handeln strukturieren, bewegt sich der Mensch durch das Leben. Diese durch Erziehung und Bildung erlernte soziale «Kleidung» im Sinne eines bestimmten Habitus wird zum praktischen allrounder T-Shirt, das in Varianten und Abweichungen erhältlich ist, doch schwer abzulegen ist. Für diese, eine Gesellschaft strukturierenden Codes kann man viele Synonyme finden (Grosse Erzählungen, die Hegemonie, der Habitus die Traditionen). Gerade der Fiktion des individuellen, selbstbestimmen Subjekts begegnen wir täglich, da sie als Verkaufsargument ganze Industriezweige, insbesondere Musik und Mode, zu immens lukrativen Geschäften macht. Die Arbeiten von Louise Guerra zu betrachten und sich auf die Vorstellung einer solchen künstlerischen Tätigkeit einzulassen bedeutet, sich aus dem kunstimmanenten Feld heraus zu bewegen und die Welt und deren scheinbar unverrückbare Eckpunkte und Limitationen wahrzunehmen, einen Entwurf oder eine Suche einer Alter- native zu beobachten. deuxpiece – ein nomadisches Kunstprojekt deuxpiece ist ein nomadisches, unabhängiges kuratorisches Projekt für junge und zeitgenössische Kunst. Als nicht-kommerzielle Plattform realisiert deuxpiece seit 2009 Ausstellungen, Veranstaltungen und Publikationen mit jungen Kunstschaffenden, Grafikern und Designern. deuxpiece wirkt in Zusammenarbeit mit anderen Kunsträumen in Basel, Berlin und New York und anderen Städten.
Text: Claire Hofmann, deuxpiece, Oktober 2015
Kunsthoch Luzern
place: sic! Elephanthouse, Luzern
KuratorIn: Hoffmann, Claire; Denzler, Dominik; Hildenbrand, Bianca; Wilke, Alice; Bringezu, Stefanie [deuxpiece]
Dokumentationstyp: Dokumentation einer Performance/Aktion / Documentation of a performance/action