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Observatorium
Ich kannte jede Bewegung, jede Abfolge, jeden Ast und konnte geschickt und rasch auf die grosse, stolze Birke sitzen. Der höchste Baum in unserem Garten. Ich hatte einen Lieblingsast, einen besonders bequem gewölbten Arm zum Draufsitzen und die Beine der Schwerkraft zu überlassen. Die herabhängenden, feinen Zweige um mich herum bildeten einen Schutz und ein luftdurchlässiges und lichtdurchflutetes Kuppeldach. Ich fühlte mich überlegen und unbeobachtet da oben, und gleichzeitig konnte ich alles beobachten. Durch die feinen, blutgefässartigen Zweige konnte ich wie durch einen Schleier auf mein Flachdachhaus schauen, auf den gesamten Garten, auf die Nachbarhäuser und auf die Weide oberhalb meines Hauses, wo im Frühling das Gras hochwuchs, im Sommer zylinderartige Heuballen zum Trocknen auslagen, im Herbst der Nebel über dem Feld tanzte, und im Winter eine feine Schneedecke das Grün verschwinden liess, wobei durch die Wärme rasch vereinzelte dunkle Stellen unter dem Schnee hindurchschmolzen und die Wiese bald die gleiche Farbigkeit hatte, wie die Rinde der Birke.
Die Borke verführte mich immer wieder zum Anfassen. Wenn man mit dem Finger über die glatte, weisse Oberfläche strich, wurde man durch die rauen, schwarzen Risse abrupt gebremst. Stellenweise ringelten sich die Ränder der weissen Haut wie Hobelspäne und mit dem Finger konnte man sie aufrollen und zurückspicken lassen.
Die eiförmigen, kleinen Blätter mit den gesägten Rändern hüllten mich noch mehr in die Baumkrone ein als die kahlen Birkenruten im Winter. Im Herbst glänzten die Blätter goldgelb um mich herum und durch den Wind klingelten sie wie leise Glöckchen, wenn sie sich im Luftzug berührten. In dieser Zeit konnte man auch zusehen, wie Blatt um Blatt mit unkontrollierten Bewegungen zu Boden fällt und ein Teil meiner Schutzhülle sich um den Baum neuformierte.
Basel, 2018